Tag der Entscheidung



Die erste Nacht im Zelt liegt hinter mir. Es ist kalt, es regnet und ich habe Hunger. Da hilft nur eins: das Zelt ausräumen, alles wieder in den Packtaschen verstauen, meine nasse Unterkunft abbauen, das Zelt in eine regendichte Tasche am Lenker stopfen und in die Pedale treten. Schnell kommt mein Kreislauf in Schwung. Nur die Finger fangen wegen der Kalte sehr schnell zu schmerzen an. Ein Gefühl , das ich überhaupt nicht mag.

Es geht leicht bergauf am Fluss entlang, der mir mit seinem Rauschen am Abend zuvor das Einschlafen erleichtert hatte. Links erblicke ich ein Restaurant. Das bedeutet Frühstück und etwas aufwärmen! Dabei sollte man wissen, daß auch hier in China, ebenso wie im Norden von Laos oder Vietnam, die Türen unabhängig von der Temperatur den ganzen Tag geöffnet sind. Heizungen gibt es sowieso keine.


Wie fast überall in Südostasien dreht sich von morgens bis abends alles um die Rentenversicherung. Sprich: die kleinen Kinder. Dabei beobachte ich auch hier, wie in Europa, daß man die Kleinen immer häufiger mit Smartphones wortwörtlich zum Schweigen bringt. Sind die Kids erst einmal angefixt, gibt es ohne die Dinger nur noch Geschrei. Nein, Smartphones machen nicht süchtig...

Jedenfalls widmet man sich in diesem Restaurant auch eher dem kleinen, jähzornigen Schreihals, wie mir als Gast. Das ist wahrscheinlich auch einer der Gründe, warum die Restaurantbewertung (vermutlich ausgestellt von einer chinesischen Behörde), einen unzufriedenen Smiley in roter Farbe zeigt. Diese Bewertungstafeln sehe ich anfangs, vor allem in den Städten, sehr häufig.


Vielleicht war oder ist auch die Qualität des Essens mitentscheidend, jedenfalls bringt mich die Nudelsuppe, die ich esse, wenige Stunden später etwas in Bedrängnis. Zu meinem Glück findet sich aber in unmittelbarer Nähe eine zugebenermaßen überdimensionierte und etwas dunkle Örtlichkeit, um das etwas größere Geschäft ohne unnötige Zeugen hinter mich zu bringen;-)

Tunnel, vor allem stillgelegte, können durchaus nützlich sein.




Erleichtert nehme ich die sanft ansteigende Straße wieder unter meine Stollenreifen und bin schon bald auf 2.000 Meter über dem Meeresspiegel. Zeit für die Mittagspause. Wieder bestelle ich eine Nudelsuppe für umgerechnet einen Euro und breite draußen vor der kleinen Garküche mein Zelt zum Trocknen aus, während ein netter, älterer Mann, drinnen mein Mahl zubereitet. Während ich esse, lade ich für gewöhnlich, an einer der vorhandenen Steckdosen, meine elektronischen Geräte auf. Doch dieses Mal suche ich vergeblich nach meinem weißen Ladekabel! Vermutlich habe ich es am selben Morgen in dem anderen Restaurant liegen gelassen. Dumm gelaufen, denn ein Ersatzkabel habe ich nicht dabei.

Kurz zeigt sich die Sonne und spendet sofort herrliche Wärme, um kurze Zeit später endgültig für diesen Tag zu verschwinden. Der alte Mann spendiert mir noch eine heiße Kartoffel, die ich mit meinem Messer schäle und trocken in mich hineinmampfe. Wenig kann manchmal so viel sein. 

Den Rest des nachmittags wird die Straße steiler und das Wetter immer feuchter und kälter. So macht mir das nicht sehr viel Spaß. Gerade als ich mich mental darauf vorbereite, langsam aber sicher einen Lagerplatz finden zu müssen, erblicke ich ihn auf der rechten Seite. 

Der Traum schlechthin. Überdacht und in der Nähe von ein paar Essensständen unmittelbar vor dem großen Anstieg, der für den nächsten Tag geplant ist. Die Budenbesitzer geben mir ihr okay und ich kündige mich nach erfolgtem Zeltaufbau zum Abendessen an.




Ist es tagtäglich schon wirklich spannend, ab sechzehn Uhr einen Lagerplatz zu finden, so ist das hier wie ein Sechser im Lotto.

  • Ich kann mit Erlaubnis campen
  • Ich bin mitten in den Bergen
  • Der Lagerplatz ist überdacht und damit trocken
  • Der Boden ist verdichtet, da halten die Häringe wunderbar
  • Ich bin früh da und kann in Ruhe aufbauen
  • Kann mich in Ruhe mit Flußwasser waschen
  • Mein Bike hat einen trockenen Platz in meiner Nähe
  • Ich bekomme ein warmes Abendessen
  • Ich kann meine Trinkwasservorräte auffüllen
  • Ich muß nachts hier oben in der Einsamkeit kaum mit ungebetenen Besuchern rechnen
  • Ich bekomme beim Abendessen noch ein paar Infos von Reisenden, die den Pass gerade herunter gekommen sind
Bleibt nur noch die Frage, wie hoch ich hinaus muß und wann ich auf Schnee treffe.




Das Feuer, das zu unseren Füßen entzündet wurde ist längst erloschen, als ich in meinem kuscheligen Schlafsack liegend, nochmals aus dem Zelt spähe. Die netten Menschen packen alles in ihre Autos, stapeln die Hocker und fahren talwärts nach Hause. Alleine bleibe ich in den Bergen zurück. 

Traumhaft.




Früh werde ich wach. Spüre die Kälte und höre, wie schon die ganze Nacht, das Prasseln der Regentropfen.

Das hört sich nicht gut an.

Mental versuche ich mich mit der Situation anzufreunden. Zerlege meine Gedanken. Übrig bleiben zwei Worte. KÄLTE. NÄSSE.

Die allergrößte Hürde ist allerdings mein eigener Körper. Seit meiner Kindheit schwitze ich bei der einfachsten Körperanstrengung immens. Mir persönlich macht das nichts aus, daß ich dann klatschnass bin. Blöd ist nur, daß mein Körper oberflächlich so herunterkühlt (das ist ja die Körperfunktion von Schwitzen), daß zum Beispiel meine Hände so eiskalt werden, daß es sich anfühlt, als sei ich bereits nicht mehr unter den Lebenden. Was zur Folge hat, daß ich bergauf alles total nass schwitze und bei der nächsten Abfahrt zu sehr auskühle, wenn ich oben nichts trockenes anziehe. Doch so viele trockene Sachen, wie ich benötige, kann man gar nicht mitnehmen. Bei Sonnenschein trocknet alles ja schnell wieder, aber bei Schnee und Regen?

Wird schon, denke ich und beginne damit, mich im Zelt anzuziehen. Draußen, geschützt durch die Plastikplane über mir, baue ich mein Zelt ab und mache mich startklar.

Das hört auch irgendwann auf mit regnen.

Ein Blick auf meinen Bikecomputer. 2 Grad "plus".

Ein Blick auf den Höhenmesser. 2.600 Meter.

Muss ich über den Pass, kann es sein, daß ich auf über 4.000 Meter hoch muss. Kann ich jedoch oben durch ein Tunnel, dann befindet sich der laut ungenauer Karten auf 3.500 Metern.

Ein Blick hoch in die Berge, bestätigen meine Befürchtungen. Keine hundert Meter über mir ist alles wie weiß gezuckert. Augen zu und durch.




Da, wo ich jetzt bin, gibt es nur zwei Möglichkeiten:

  1. Hoch und rüber über den Pass, dann bin ich für Wochen auf einem Plateau in einer Höhe zwischen 3.500 und 4.500 Meter unterwegs. Und da komme ich dann auch nicht einfach wieder herunter. Doch genau da will ich hin. Nur nicht bei Schnee und Regen. In Chengdu hatte mir ein israelisches Pärchen erzählt, daß sie in einem Bus für sechsunddreissig Stunden auf einem Pass eingeschneit waren. Das war bereits vor zwei Wochen gewesen.
  2. Ich breche hier ab, kehre um und begrabe meinen Traum.



Langsam verlasse ich das schützende Dach aus Platikplanen und trete in die Pedale. Wenn ich in Bewegung komme, wird mir innerlich warm, weil ich zu schwitzen beginne. Meine Hände senden mir aber bereits nach wenigen Metern Schmerzsignale wegen der Kälte trotz meiner Neoprenhandschuhe. Es nieselt nicht nur, nein, der Regen trommelt auf mich ein. Ich versuche alles Unangenehme auszublenden. Einen Kilometer lege ich so zurück. Das triste, ungemütliche Szenario drückt schwer auf mein Gemüt. Will ich sechs Stunden so bergauf unterwegs sein? In Regen und Kälte pausieren? Für Wochen mich dermaßen quälen und leiden? Jeden Tag nass sein bis auf die Haut und frieren? Muss ich irgend etwas irgend jemand beweisen?

NEIN.

Ich drehe um und beginne mit der Abfahrt. Werde schneller. Spüre meine Hände nicht mehr, die durch die eiskalte Nässe und den Windchillfaktor zu erfrieren drohen. Immer wieder schließe ich meine Finger zu einer Faust und öffne sie wieder, um die Blutzirkulation anzuregen. Wie ich diesen Schmerz in meinen Händen hasse. Mein Blick wandert alle paar Sekunden zu meinem Bikecomputer.

2.3 Grad
2.3 Grad
2.3 Grad
2.4 Grad
2.4 Grad
2.4 Grad
2.4 Grad
2.5 Grad
...
Ich rase zu Tale, damit ich es schneller hinter mir habe, aber je schneller ich bin, umso mehr friere ich. Ein Teufelskreis. Der eisige Regen peitscht mir ins Gesicht, immer wieder kontrolliere ich, ob meine Hände die Bremsen noch betätigen. Spüren tue ich sie schon eine Weile nicht mehr.

6.5 Grad
6.5 Grad
6.5 Grad
6.6 Grad
...

Ich spüre mich kaum noch. Wie schon öfter, scheint sich mein Geist vom Körper getrennt zu haben. Dort auf dem Rad, die erstarrte Figur. Irgendwo dazwischen oder darüber, etwas das nur einen Gedanken hat.

WÄRME.




Die Abfahrt scheint ewig zu dauern. Meine Hände scheinen zu Eisklötzen gefroren zu sein. Mir graust schon bei dem Gedanken an den noch fieseren Schmerz beim Auftauen.

8.2 Grad
8.2 Grad
8.2 Grad
8.3 Grad
...

Der erste Tunnel taucht vor mir auf. Schlagartig wird mir klar, was das bedeutet:

  • kein Regen
  • wärmere Temperatur
Ich berechne schnell anhand meiner Geschwindigkeit, wie lange ich diese beiden Änderungen zum positiven geniessen kann. Endlich geht es aufwärts, weil es abwärts geht.

12.3 Grad
12.4 Grad
12.5 Grad
12.6 Grad
...

Der Regen hat aufgehört. Einfach so war er plötzlich weg. Nach dem Tunnel. Ich brauche eine kurze Zeit, das zu realisieren. 

16.7 Grad
16.8 Grad
17.1 Grad
...

Bei 18 Grad merke ich, daß ich nicht mehr friere. Ich habe meine Wohlfühltemperatur gefunden. Ja, ich bin ein Schönwetterfahrer. Dazu stehe ich! In gut einer Stunde lasse ich die 1.600 Höhenmeter hinter mir, für die ich bergauf zwei Tage benötigt habe. Als ich gegen dreizehn Uhr wieder in Yingxiu ankomme, scheint die Sonne bei 27 Grad. Verrückt!

Doch ich bereue meine Entscheidung nicht. Hier unten sieht alles prima aus und da oben? Ich checke wieder in mein Hotel ein. 

Ein neuer Plan muß her.