Was in Thailand, auf dem Kok River von Tha Ton nach Chiang Rai, noch gut gegangen ist, läuft wenige Tage später auf dem Mekong wortwörtlich aus dem Ruder.
Am frühen nachmittag sitzen wir mitten im Fluss auf einer Sandbank auf, weil einfach zu viele Menschen an Bord sind. Kurz nachdem wir festsitzen, ruft unsere Besatzung einen vorbei fahrenden Laoten, in einem kleinen Longtailboot, zur Hilfe. Ohne zu zögern nimmt er Kurs auf unser Boot und legt seitlich an.
Die ersten Menschen springen in das "Rettungsboot". Sofort erinnere ich mich daran, was mir mein Vater vor mehr als 40 Jahren beigebracht hat.
Den '"Birkenhead Drill". Die Regel ist vor allem durch den Untergang der Titanic 1912 bekannt geworden. Der Zweite Offizier schlug Kapitän Smith vor: „Sollten wir nicht die Frauen und Kinder in die Boote bringen, Sir?“ worauf der Kapitän antwortete: „Frauen und Kinder in die Boote und diese ablassen!“ (Quelle: Wikipedia). Daraus entstand der Verhaltenskodex "Frauen und Kinder zuerst!".
Wie schon oft vorher in meinem Reiseleben, werde ich plötzlich ganz ruhig und kann glasklar denken. Verspüre keinerlei Angst. Klar, wir können unsere ganze Ausrüstung verlieren, aber irgendwie glaube ich in diesem Moment nicht, daß das passieren wird.
Mike, der radelnde Belgier, der die ganze Zeit neben mir saß und mit dem ich seit Tha Ton gemeinsam unterwegs bin, steigt zu meiner Verwunderung direkt in das kleine Boot.
Kurz spreche ich mit ihm über seine Beweggründe, dann wird mir klar: wir haben hier eine andere Situation. Ich MUSS von Bord, denn es geht darum das Gewicht zu reduzieren, um das Boot wieder frei zu bekommen und da bin ich immer der Richtige,-)
Das schmale Boot kommt mächtig ins Schwanken, doch es kentert nicht, als ich ebenfalls vorsichtig ins Boot hinunter steige. Minuten später waten wir bereits durch das schlammige Ufer an Land.
Von dort aus beobachten wir die nächsten Minuten, wie immer mehr Mitreisende vom dem Laoten an Land gebracht werden. Dann endlich kommt das Boot frei.
Das große Longtailboat hält Kurs auf das Ufer. Wenige Meter entfernt von uns, ist das Wasser sogar wieder so tief, daß wir direkt an Bord gehen können. Auch hier sind Mike und ich die letzten.
Bereits jetzt fällt mir auf, was sich später fortsetzen wird: mit ganz wenigen Ausnahmen kümmert sich jeder nur um sich selbst. Kaum einer hilft dem anderen. Vielleicht liegt das am Alter. Ein Großteil der Menschen an Bord ist so zwischen 20 und 30 Jahre alt. Das soll aber nur ein Erklärungsversuch sein, keine Begründung. Das Gefühl Generation "Ich", drängt sich mir schon auf, bei dem was ich so sehe. Vielleicht ist es aber auch reiner Überlebensinstinkt oder pure Angst.
Keine Ahnung. Ich verspüre zu keinem Zeitpunkt Angst. Wie so oft in meinem Leben außerhalb der Komfortzone, werde ich ganz ruhig und überlegt, wenn die Situation brenzlig zu werden scheint.
Alles scheint wieder gut, bis plötzlich einer der Backpacker nach vorne gerannt kommt und den Kapitän darauf aufmerksam macht, daß gerade etwas abgerissen wurde und im Fluss verschwunden ist.
Ich sitze zwar direkt hinter dem Kapitän, aber ich verstehe das englische Wort des Backpackers nicht. Sekunden später ist klar: wir sind manövrierunfähig und treiben auf einen scharfkantigen Felsen zu.
Mit angstgeweiteten Augen versucht der Kapitän die Kollision zu vermeiden. Keine zwei Meter entfernt von ihm beobachte ich, wie das Schiff immer mehr Richtung Felswand getrieben wird. Man spürt die Kraft dieses Stroms, der irgendwo in Tibet entspringt und zu den zwölf größten Flüssen der Erde zählt.
Am Ende geht alles ganz schnell. Wir können nur zuschauen und nicht mehr eingreifen. Hoffen und Bangen. Dann sind wir an der Wand vorbei. Wenige Zentimeter von den Felsen entfernt, treiben wir Richtung Ufer. Wir haben unheimliches Glück gehabt. Ein junger Laote springt in die Felswand und klettert wie eine Gämse ein paar Meter an ihr hoch, um das Schiffstau zu befestigen. Wir sind erst einmal in Sicherheit. Die Tochter des Kapitäns geht ebenfalls von Bord und verschwindet in einem kleinen Boot um Hilfe zu holen.
Kurze Zeit später erscheint ein weiteres, großes Longtailboot und schleppt uns ein paar hundert Meter weiter, wo ein steiler Sandstrand und ein Dorf auf uns wartet.
Erneut müssen alle das Boot verlassen. Doch diesmal mit Gepäck. Wir werden die Nacht hier verbringen müssen, am Ufer des Mekong. Die Schiffsluken werden geöffnet, um die Rucksäcke und Koffer aus dem Schiffsbauch zu holen. Wieder scheinen die die meisten nur an sich und ihr Gepäck zu denken. Doch so funktioniert das nicht. Mike und ich organisieren eine "Kette". Die Idee wird schnell verstanden und direkt umgesetzt. Wieder sind wir die letzten, die das Boot verlassen und ihr Gepäck den Hang hochschleppen. Ein Engländer, der bereits oben auf dem Hang im Sand sitzt, schaut mir dabei desinteressiert zu.
Die Dämmerung bricht an. Für die armen Bewohner des Dorfes wird die Nacht zum Geschäft ihres Lebens. Brennholz wird organisiert. Provisorische Verkaufsstände werden errichtet. Es mangelt an nichts. Nudelsuppe, Chips, Bier, Schnaps und selbst Opium ist im Angebot.
Immer mehr junge Backpacker scharen sich um unser knisterndes Lagerfeuer, das die ganze Nacht hindurch brennt. Zum Glück. Denn während wir irgendwann in unsere Schlafsäcke kriechen und uns selbst dort den Allerwertesten abfrieren, haben die Backpacker und Touristen zumeist nur eine dünne Decke, um dem eiskalten Wind Paroli zu bieten. Kaum einer macht ein Auge zu in dieser Nacht.
Weder am Ufer, noch im Schiffsbauch, wo viele der älteren Touristen Zuflucht gesucht und vermeintlich gefunden haben.
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