DIE RETTUNG (19.10.2016)


19. Oktober 2016 - Ihr erinnert Euch?

 

Mein erster großer Anstieg? Die Hitze? Nichts gegessen und zu wenig Wasser dabei?

 

Etappe für Etappe kämpfe ich mich also den Berg hoch und meine irgendwann einmal so etwas wie ein oder mehrere Häuser bzw. Hütten auf der Passhöhe zu sehen.

 

Doch welche Enttäuschung als ich es endlich geschafft habe!

Nichts. Kein Haus. Keine Hütte. Kein Essen. Kein Wasser.

 

Ohne die Aussicht auch nur eine Sekunde zu genießen, geht es übergangslos an die Abfahrt. Hoffentlich kommt jetzt kein Gegenanstieg mehr, denke ich.

 

Der Gegenanstieg kommt, doch er ist nicht sehr land und ich habe mich schon wieder ein ganz klein wenig erholt. Im Tal unten angekommen, lichtet sich zunächst einmal der Dschungel, bis ich an Maisfeldern vorbei nach ein paar Kilometern endlich ein Dorf erreiche.

 

Am erstbesten Restaurant halte ich an und bestelle mir etwas zu essen. Geschafft, denke ich, nachdem ich auch meine Wasservorräte aufgefüllt habe. Dann geht es zurück auf die Straße, einen Platz für die Nacht suchen.

 

Doch anstatt wie erwartet flach, geht es munter weiter rauf und runter.

 

Direkt nach der Ortschaft, in der ich gegessen habe, entdecke ich links einen geeigneten Platz zum campen. Es ist mir aber noch zu früh, zu hell und zu heiß.

 

Einige Zeit später inspiziere ich eine offene Hütte, direkt an der Straße. Sie ist mir zu verschmutzt.

 

So radle ich Kilometer um Kilometer, bis ich erneut kurz vor dem Zusammenbruch bin. Rechts unten entdecke ich ein paar Bauern bei der Arbeit. Ist da nicht auch ein Bach?

 

Als ich an der vermeintlichen Abfahrt zu den vorher gesichteten Bauern vorbeifahre, entscheide ich mich gegen diese Möglichkeit.

 

Direkt nach der Biegung wartet der nächste Anstieg auf mich. Oh nein! Bitte nicht! Wieder lege ich mich am Straßenrand in den Schatten und versuche mich zu erholen. Dann gehe ich die ca. 100 (!) Meter lange Steigung an. Oben angekommen, scheint es bergauf weiter zu gehen. Eine Möglichkeit zum Zelten? Fehlanzeige. Ich kapituliere. Ich kann nicht mehr. Bin definitiv am Ende.

 

Also rolle ich die eben erst gemeisterte Steigung wieder hinunter und nehme dann links den steilen Weg hinunter zu den Bauern. Mit letzter Kraft schaffe ich es vor die ärmliche Behausung. Eine ältere Frau frage ich mit Gesten, ob ich mein Zelt drüben an ihrem Feld aufbauen darf. Sie ruft nach einem jungen Mann, der mir wohl klar machen will, daß ich zurück in das letzte Dorf fahren soll.

 

Nein. Allein den steilen Weg komme ich heute nicht mehr hoch. Ich überzeuge ihn mit weiteren Gesten. Dann lege ich die letzten 30 Meter auf dem Rad zurück. Am Feldrand angekommen, schaffe ich es gerade noch, meine Isomatte auszurollen. Total erschöpft falle ich auf die Unterlage und schließe die Augen.

 

Wenige Minuten später wird mir klar, dass ich hier in der prallen Sonne nicht liegen bleiben kann. Minutenlang begutachte ich eine im Schatten stehende Bambusliege, keine 10 Meter entfernt von mir. Nur, wie soll ich da hinkommen?

Mir fehlt die Kraft. Weitere Minuten vergehen, bis ich mich doch aufraffe und meinen kraftlosen Körper dorthin schleppe.

 

Sofort döse ich ein. Als ich nach ein paar Minuten wieder aufwache, sind die ersten Moskitos im Anflug. Ob es mir gefällt oder nicht, ich muss mein Zelt aufbauen. Schwer vorstellbar in meiner Verfassung, aber es geht nicht anders. Es wird ein Kampf, den ich am Ende auch noch irgendwie gewinne. Schweißgebadet falle ich danach in mein Zelt.

 

Mir ist so schlecht, wie selten im Leben. Ich bin so am Ende, dass es mir nicht einmal gelingt Schlaf zu finden. Immer wieder wälze ich mich im Zelt herum. Bin klatschnass am ganzen Körper.

 

Irgendwann döse ich dann doch wieder ein. Als es schon dunkel ist, kommt eine junge Frau und bietet mir Essen an. Ich lehne ab. Ich bin zu schwach um zu essen. Ich will nur noch schlafen.

 

Mitten in der Nacht meldet sich meine Blase. Wieder so ein Kampf. Doch diesmal verliere ich. Draußen vor dem Zelt muss ich erkennen, dass mich meine Beine nicht mehr tragen. Das Pinkeln muss warten. Stunden später gelingt es mir dann doch noch.

 


 

Am nächsten Morgen geht es mir unerwartet gut, meine großen Befürchtungen bewahrheiten sich nicht. Schnell baue ich das Zelt ab und bedanke mich bei der armen Bauernfamilie überschwänglich. Sogar zu einer Tasse Kaffee werde ich noch eingeladen, die ich zuerst ablehnen möchte und dann doch annehme.

 


Die ersten beiden Steigungen bewältige ich gut, um danach zu erkennen, was ich tags zuvor befürchtet hatte: es geht weiter durch den Dschungel bergauf.

 

Mit ausreichend Schlaf ist das dann aber kein Problem. Die daran anschließende Abfahrt führt mich hinunter in die Ebene, die ich die nächsten Tage durchradeln werde.


 

 

Im ersten Ort trinke ich eine eiskalte Cola, ein paar Kilometer später frühstücke ich ausgiebig.

 

Ab diesem Tag habe ich immer zwei große Flaschen Wasser am Fahrrad.

 

Eine davon ist das Abschiedsgeschenk meiner armen, aber so hilfsbereiten Gastgeber: eine 1,5-Liter Cola-Flasche.


 

Die ersten Verluste stellen sich ein.

 

Beim Abschied von meinen Gastgebern lasse ich meine Visitenkarten und meine Aufkleber liegen und bei einem Essensstopp bricht dann an diesem Tag auch noch mein Fahrradständer ab.

 

Es gibt Schlimmeres...

 

Dafür komme ich sehr gut vorwärts und kann mich nebenbei weiter vom Vortag erholen.

 



 

Dass ich aber längst noch nicht wieder fit bin, merke ich direkt am nächsten Morgen. Bereits nach der ersten längeren Steigung bin ich erneut so müde, dass ich oben angekommen sofort die überdachte Haltestelle in Beschlag nehme und eine geschlagene Stunde schlafe. Kaum zurück auf dem Highway, werde ich im Vorbeifahren von ein paar Polizisten auf ihr Wasser- und Kaffeeangebot aufmerksam gemacht. Zuerst zögere ich, doch dann genieße ich das Angebot in vollen Zügen, mache mir einen löslichen Kaffee und fülle eiskaltes Wasser in meine Cola-Flasche. Danach bin ich dann endgültig startklar.

 



 

Am Nachmittag erlebe ich dann noch einmal eine nette Überraschung. Ein Auto hält vor mir an, zwei Frauen steigen aus und überreichen mir eine Tüte mit süßem Gebäck. Eine von beiden ist passionierte Radlerin, wie man unschwer an ihrem T-Shirt und den Aufklebern an ihrem Auto erkennen kann.

 



 

Wir unterhalten uns so gut es geht, vernetzen uns auf Facebook, ich bedanke mich herzlich und weiter geht es Richtung Norden, vorbei an unzähligen Plakaten mit Trauerflor. Überall in Thailand läuft eine Woche lang auf nahezu allen Kanälen die Liveübertragung der Trauerfeierlichkeiten in Bangkok.

 



 

Die nächsten beiden Tage verbringe ich auf ruhigen Landstraßen eingerahmt durch wunderschöne Landschaft, interessanten Tieren und durch den Monsunregen bedingt, inmitten blühender Fauna und Flora.

 

Man schenkt mir zum Dessert so etwas wie einen Berliner und ich gerate mit meinem Lastenrad an eine Horde bepackter Motorräder. Diesen Vergleich muss ich auf einem Bild festhalten!

 



 

Wie hieß es so schön auf dem T-Shirt der radelnden Thailänderin?

 



 

Das Wochenende verbringe ich in Kamphaeng Phet, von wo aus ich dann am Montag Richtung Tak starte. Da lediglich knapp 70 Kilometer vor mir liegen, gehe ich es locker an. Mittlerweile habe ich wirklich regelmässig gegessen, viel geschlafen und bin entsprechend guter Dinge.

 

Beim Herausradeln aus der Stadt traue ich meinen Augen kaum. Steht da nicht eine Mercedes-Heckflosse? Für mich eines der schönsten Autos das jemals in meiner Heimatstadt gebaut wurden.

 

Nach einem kurzen Plausch mit dem Besitzer muss ich natürlich ein paar Fotos machen!

 



 

Der Rest des Tages verläuft ohne größere Ereignisse. Nur als ich zum Fotografieren an einem Kloster anhalte, springt mir das erste Mal die Kette vom Ritzel. Das bedeutet, alle Packtaschen und die Wassertaschen entfernen, das Fahrrad auf den Kopf stellen, die Rohloffschaltung lösen, das Hinterrad lösen und die Kette wieder auf das Ritzel legen. Ist jedes Mal ein Akt, der seit ein paar Tagen noch mehr Ruhe und Gelassenheit fordert, weil ich ja gleichzeitig das Fahrrad mangels Fahrradständer halten muss . Kurzerhand mache ich das zu einer Achtsamkeitsübung.

 



 

Kurz vor Tak übersehe ich fast ein nagelneues Guesthouse auf der anderen Straßenseite. Für 400 Baht (10,28 €) ist sogar noch ein Frühstück inkludiert.

Da ich Tak jetzt nicht als so sehenswert in Erinnerung habe, checke ich dankbar ein. Lieber übernachte ich hier vor der Stadt und bin morgen früh gleich auf dem Asian Highway 1, der längsten Verbindung im Asiatischen Fernstraßen-Projekt.

 

Mit einer projektierten Länge von 20.557 km führt die Straße von Tokio (Japan) über Korea, die Volksrepublik China, Südostasien, Indien, Iran bis über den Bosporus (Türkei).

 

Ähnlich den Europastraßen werden existierende Strecken zusätzlich mit der Bezeichnung „AH1“ ausgestattet. Die teilnehmenden Staaten haben sich verpflichtet, den Ausbaustandard der transnationalen Straßen zu erhöhen und für eine Verbindung wie den AH1 zu autobahnähnlichen Fernstraßen fortzuentwickeln.

 

(Quelle: Wikipedia)

 



 

Die Nacht über regnet es so stark, dass ich mehrmals aus dem Fenster schaue, um eine Erklärung für den ohrenbetäubenden Lärm zu bekommen. Am nächsten Morgen nieselt es nur noch zeitweise.

 

Meine Ausrüstung ist schnell in den Packtaschen verstaut. Während ich alles zum bereitgestellten Fahrrad schleppe, denke ich noch: schau noch einmal nach, ob Du auch wirklich alles eingepackt hast!

 


Ein kurzer Blick in den Raum reicht da allerdings nicht aus. So chaotisch wie ich meine wenigen Besitztümer immer im Raum verteile, bedarf es beim Einsammeln einer größeren Sorgfalt. Doch die lasse ich an diesem Morgen nicht walten und werde bitter dafür bestraft. Meine nagelneue Stirnlampe bleibt wohl irgendwo im Bett unter den Kissen verborgen. Den Verlust bemerke ich erst abends nach meiner Ankunft in Mae Sot.

 


 

Zum Frühstück verputze ich vier Scheiben Marmeladetoast, ein paar salzige Kekse und zwei Tassen Kaffee. Am ersten Laden fülle ich meine Wasservorräte auf, denn heute wartet die bisherige Königsetappe auf mich. 1.600 Höhenmeter auf 89 Kilometer verteilt. Oder anders formuliert: zwei lange und steile Anstiege.

 

Meiner Erinnerung nach, habe ich mich da vor zwei Jahren, vor allem zum Ende hin, unglaublich quälen müssen. Nun plane ich für heute nur einen Anstieg mit anschließendem Campen im Taksin Maharat National Park.

 

Doch bevor die Straße stetig bergauf führt, kaufe ich mir noch einen Bund Bananen. Eine sehr wichtige Entscheidung, wie sich noch herausstellen wird.

 

Trotz anhaltender Baustellenbereiche, ein Großteil des Highways wird verbreitert und erneuert, läuft es unerwartet gut. Nach nur zwei kurzen Zwischenstopps erreiche ich bereits gegen 13 Uhr den Doi Muser-Pass, kurz hinter dem oben genannten Nationalpark und beschließe auf dem Doi Muser Markt meine Mittagspause zu machen.

 



 

Als ich Richtung Markt rolle, sitzt vor dem Cafeshop bereits ein anderer Radler. Grey Baker, ein junger Kerl aus Cambridge, macht ebenfalls gerade Pause. Er ist im August in London los geradelt und will bis Singapur in Malaysia fahren.

 

Seine Webseite: http://whereis.greysteil.com

 

Beim dem netten Gespräch mit ihm fällt mir eines mal wieder ganz gravierend auf: der Mann ist jung, macht eine halbe Weltumradlung und hat keine Zeit!

 

Dreimal fällt der Satz "i don´t have time", der in unserer westlichen Welt so fest in unserem Sprachgebrauch verankert ist. So dauert unsere Unterhaltung auch nicht sehr lange, Grey "muss" weiter.

 

Dass er morgens in Mae Sot, meinem neuen Tagesziel, gestartet war und bereits 1.600 Höhenmeter in den Beinen hat, scheint da nicht wichtig. Weiter, immer weiter!

 

Dabei hat er schon einiges erlebt. In Kasachstan angekommen, hatte er kein Bargeld mehr und der nächste Geldautomat war 400 km weit entfernt gewesen.

 

Also hat er ein paar Tage nur von Wasser gelebt und ist an einem Tag mit Rückenwind 270 km weit gefahren. Das Essen nach dem Gang zum Geldautomaten glich wohl einer Fressorgie, wie er mir grinsend erzählt.

 



 

Nachdem Grey weg ist, trinke ich eine eiskalte Cola, ein RedBull, einen Eiskaffee und esse ein paar süße, gefüllte Teigbällchen.

 


 

Zurück auf dem Highway geht es noch ein wenig bergauf, bevor eine lange Abfahrt auf mich wartet. Dabei werde ich so schnell, dass mir der Fahrtwind meine Baseballmütze vom Kopf reißt. Beim ersten Mal kann ich noch bremsen und mir die Kappe wieder holen. Beim zweiten Mal muss ich sie endgültig abschreiben.


 

Als der Tacho 1.200 Höhenmeter Gesamtsteigung für diesen Tag anzeigt, kann ich mir nicht vorstellen, dass da noch weitere 400 Höhenmeter auf mich warten sollen.

 

Aber auf Abfahrt folgt Gegenanstieg. Stundenlang.

 

Und dann passiert es. Im letzten Anstieg. Keine 300 Meter vor dem höchsten Punkt. Krämpfe in beiden Beinen gleichzeitig. So etwas hatte ich bisher nur einmal in meinem Leben. Im Jahre 2003 auf meiner ersten Alpenüberquerung. Aber bei weitem nicht so heftig wie in diesem Augenblick. Ich versuche abzusteigen. Geht nicht. Sofort sind die Krämpfe wieder da. Also erst mal das Rad an die Begrenzungsmauer und in den Graben rollen lassen, um es zu sichern. Dann stütze ich mich an der Mauer ab und hieve meinen Körper langsam vom Rad. Die Bananen! Hoffentlich helfen die mir. Was mache ich, wenn ich nicht mehr weiter kann? Ich reiße die Schale auf und verschlinge die süße Frucht. Vorsichtig belaste ich danach meine Beine. Die Krämpfe verschwinden augenblicklich und kommen auch nicht wieder. Kurz danach erreiche ich die Passhöhe, esse ein Eis und genieße die anschließende zwanzig Kilometer lange Abfahrt nach Mae Sot. Selbst der platte Reifen, zwei Straßen vom Guesthouse entfernt, bringen mich an diesem Tag nicht mehr aus der Ruhe.

 


 

Nachdem ich jetzt vier Tage in Mae Sot verbracht habe, geht es heute weiter entlang der burmesisch-thailändischen Grenze Richtung Norden.

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Jürgen (Montag, 31 Oktober 2016 09:11)

    ...ob die Krämpfe vielleicht doch was mit dem Alter zutun haben?

  • #2

    Johanna (Dienstag, 01 November 2016 07:24)

    Toll geschrieben, weiterhin gute Fahrt!