Durch Tunnel in die Berge



7. Oktober 2018

An diesem Morgen erlebe ich zum ersten Mal persönlich, wie fotoverrückt die Chinesen sind. Beim Abschied nehmen, vom Hotelpärchen, werden unzählige Fotos mit mir als Hauptdarsteller geschossen. In den unterschiedlichsten Kombinationen: mal mit ihm, mal mit ihr, von der Ferne, aus der Nähe, von rechts, von links. Es scheint kein Ende zu nehmen. Irgendwann kann ich mich dann doch losreißen, rolle noch ein wenig durch Yingxiu und treffe dort auf eine große Gruppe mit Mountainbiker(inne)n. 

Wir kommen ins Gespräch, tauschen uns über unsere Touren und Ziele aus und machen das obligatorische Gruppenfoto. Was folgt, ist eine Großserie von weiteren Aufnahmen mit den unterschiedlichsten Beteiligten. Ich komme aus dem Lachen gar nicht mehr heraus. Immer wieder löst sich ein anderer Biker oder eine andere Radlerin aus den umstehenden Grüppchen, rennt auf uns zu, drängt sich zwischen uns und will auch mit mir Langnase fotografiert sein. Anschließend begutachten wir dann gemeinsam das Ergebnis auf dem jeweiligen Smartphone, recken unsere Daumen anerkennend in die Höhe, begleitet von dem einen oder anderen "aaah" oder "oooh".

Kurzum: wir alle haben einen Riesenspass. 



Apropos Smartphone. Die Dinger sind ja ganz nett und hilfreich und ich dachte, daß das, was ich so in Deutschland in den letzten Jahren zunehmend beobachtet hätte, wäre krass. Weit gefehlt. 

China toppt alles. Hier gibt es eigentlich nur zwei Sorten von Menschen. Die, die körperlich arbeiten, wozu man zumeist beide Hände bebötigt. Oder die anderen, die auf ihr Smartphone glotzen. Mehr is nich.

Nein wirklich. Sie sitzen in den Geschäften, den Garküchen, den Restaurants, vor den Zapfsäulen, mit Freunden oder alleine, stehen, gehen, warten oder fahren mit Fahrrädern, Elektrorollern, Autos oder LKWs. 
Und IMMER glotzen sie auf diese kleine Glasfläche, als gäbe es kein Morgen. 

Ich weiß ja nicht, was die sich den ganzen Tag für einen Quark reinziehen, aber das hat schon was von Smartphonesklaventum oder von wortwörtlich "gefesselt" sein. Die Krönung war ein junges Mädchen, das durch ein antikes, chinesisches Dorf lief und nichts davon gesehen hat. Ihr Blick war stets nach schräg unten gerichtet.




* Dirk C. Fleck



Genau betrachtet, hat das Verhalten der Smartphone-Lemminge hat ja auch was gutes;-)

Wenn ich so durch die Gegend eier, kann ich interessante Menschen ausgiebig betrachten... Die kriegen das gar nicht mit:-)

Wobei wir schon beim nächsten, sehr angenehmen Thema wären. Chinesen starren oder glotzen einen nicht an. Man schafft es eigentlich nicht, den Blick mit Ihnen zu kreuzen, während sie einen interessiert begutachten. Und das tun sie. Das spürt man. Kurz bevor man sich ihnen zuwendet, schauen sie weg. Clevere Völkchen, das...

Doch zurück zu besagter, großer Bikergruppe. Im richtigen Augenblick rufe ich laut "bye, bye!", schwinge mich auf mein Schlachtross und pedaliere aus der Stadt, dem nächsten Abenteuer entgegen. Es geht endlich Richtung Osttibet, meinem diesjährigen Ziel und selbst gewähltem Highlight.


An zwei dunklen Tunneleingängen vorbei, geht es langsam ansteigend Richtung Berge. Doch ich komme nicht sehr weit. Vor mir gähnt ein schwarzes Loch, das darauf wartet, mich zu verschlingen. Das Schild rechts davor, scheint das aber verhindern zu wollen. 

Ein Fahrradverbotsschild!




Jetzt wird es spannend. Ich muß durch das Tunnel durch, wenn mein ambitioniertes Vorhaben nicht schon hier sein jähes Ende finden soll. In der Ruhe liegt die Kraft. Die Situation beinhaltet ja gleich mehrere, interessante Aspekte. Als da wären: das Tunnel, die Länge des Tunnels, das Verbotsschild und der davor stehende Polizei-Pickup.

Tunnel bedeutet vor allem sehr schlechte Sichtbarkeit. Und das bei der Länge. Sofort fällt mir eines der ungeschriebenen Langstreckenradlergesetze ein. FAHRE NIEMALS BEI DUNKELHEIT! Klar, daran habe ich mich die letzten zehn Jahre immer versucht zu halten. Radfahren ist ja bereits bei Tageslicht in den meisten Ländern dieser Erde ein lebensgefährliches Unterfangen, dank volltrunkener oder übermüdeter Truckfahrer oder wegen Vollpfosten, die ihr Smartphone während der Fahrt im Fußraum ihres Pickups suchen (wie vor vier Jahren in Nordthailand geschehen). Ganz zu schweigen von den kleinen Menschen in ihren zu großen Autos, die anscheinend nichts mehr sehen oder einschätzen können. 

Ständig lauert hinter oder neben uns der Mann mit der Sense. Wenn wir gerammt werden, steht wenige Tage später eine Beerdigung aud dem Programm. Das wird oft unterschätzt in dieser so ungleichen Auseinandersetzung zwischen Zwei- und Vierradfahrer.


Anyway. Erst einmal die Grundvoraussetzung klären. Ich wende mich an die Cops und deute auf das Verbotsschild.
Die Antwort kommt wie selbstverständlich: "no problem...you can drive with your bicycle...but...take care! Take care!"

Is klar! ICH SOLL AUFPASSEN???

Ich meine, ich werde gleich in dieses schwarze Loch eintauchen, versuchen so weit rechts, wie möglich zu fahren, ein Mantra nach dem anderen rezitieren, pro Forma schon mal mit dem Leben abschliessen, dabei entweder von einem der gefühlten, viertausend Autos überfahren werden oder an Kohlendioxidvergiftung sterben und bis eines von beidem eintritt, trotzdem hoffen, daß mich der Tunnel irgendwann doch auf der anderen Seite halbwegs lebend ausspuckt, um noch einmal das Licht des Tages zu erblicken und ICH SOLL AUFPASSEN???

Ich liebe unsere verkehrte Welt und die gut gemeinten Ratschläge. Hören wir uns eigentlich sprechen? Verstehen wir, was wir sagen? 

Das ist in etwa wie: "Wir müssen diesen Krieg führen, sonst gibt es nie Frieden"!

Okay. Ich muß da durch, wenn ich hoch nach Osttibet möchte. Die Freigabe habe ich bekommen, jetzt geht es an die Umsetzung. Fünf Kilometer, bei geringer zu erwartender Steigung und hoch konzentrierter, möglichst fehlerfreier Fahrt, dauert ungefähr zwanzig bis dreißig Minuten ohne Frischluft, dafür mit reichlich Abgasen.

Das bedeutet: ich befestige mein Rücklicht an der großen gelben Packtasche hinten, ziehe mein Buff über Mund und Nase und schalte mein Lupine Piko Stirnlampe ein. Der Gegenverkehr soll mich ja auch kommen sehen. Von überholendem Gegenverkehr ahne ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts...



Kaum bin ich in das Tunnel eingetaucht, sehe ich schon die erste positive Ūberraschung. Es ist gar nicht so dunkel, wie befürchtet. Hart an der rechten Bordsteinkante fahrend, versuche ich sauber meine Linie zu halten und gleichmässig zu pedalieren. Nur keine Schlenker machen, denke ich. Ich höre ein Rattern hinter mir. Die ersten Fahrzeuge setzen zum Überholen an. Die zweite Überraschung folgt. Selbst bei diesen beengten Verhältnissen hier drinnen halten alle richtig schön Abstand zu mir. Denke ich an Deutschland im Vergleich, wird mir Angst und Bange.

Und sie scheinen mich alle gut zu sehen. Schön zu wissen. 

Nach ein paar hundert Metern kommt eine Haltebucht. Ich fahre weiter. Will es hinter mich bringen. Fahre auch an der zweiten und dritten Bucht vorbei, ohne zu stoppen. Dann wird mir klar, daß ich einen Fehler begangen habe. Oder besser gesagt Zwei. Ich habe bei der Einfahrt in den Tunnel nicht auf den Tacho geschaut und ich habe den Abstand zwischen den Buchten nicht gemessen. Ergo weiß ich nicht, wieviel ich schon geschafft habe und wieviel ich noch vor mir habe. Ein Blick auf die Uhrzeit beim Start hätte auch geholfen. Alles kleine Hilfsmittel, mit denen ich mich in langweiligen Passagen üblicherweise motiviere und vorwärts hangele.



Doch alles hat ein Ende, nur der Tunnel, der hat Zwei. Das Tageslicht hat mich wieder. Mehr erleichtert als glücklich erblicke ich...

...direkt den nächsten Tunnel vor mir. Da ist nichts mit Aufatmen, Jubelschreie ausstoßen oder auf Glückwünsche von allen Seiten zu warten!

Der Alptraum, aus dem ich mich gerade selbst zu Erwachen wähnte, geht weiter!




Tunnel auf Tunnel folgt. Damit kommt der motorisierte Fahrer und auch ich schneller ans Ziel. Doch deswegen bin ich nicht hierher gekommen. Um schneller zu sein. Im Gegenteil. 

Ich habe mich bewußt für ein entschleunigtes Leben entschieden. Weniger anstatt immer mehr. Ich arbeite weniger. Ich verdiene weniger. Ich besitze immer weniger. Ich habe auch nicht mehr Zeit deswegen. Ich packe nur weniger rein in meine vierundzwanzig Stunden. 

Doch die Welt tickt schneller und schneller und anders. Zumindest so lange sie noch tickt. 

Als Radfahrer kann man das weltweit sehr gut spüren. Man bekommt mehr und mehr das Gefühl, man ist gar nicht existentVersucht mal ein paar Tage oder Wochen nur mit dem Fahrrad Eure täglichen Strecken zu bewältigen, dann wißt ihr, was ich meine. 

Fahre ich mit der Bahn, ist entweder die Tür zum Fahrradwaggon defekt oder der ganze Wagen gesperrt, weil die Klimaanlage nicht funktioniert. Fliege ich oneway nach China und will über die chinesisch-laotische Grenze rausradeln, nehmen sie mich nicht mit, weil ich keinen Rückflug habe. 

Muß ich mit meinem Fahradkarton (und fünf Packtaschen) in Karlsruhe von Gleis 2 nach Gleis 12, dann brauche ich dazu eine dreiviertel Stunde. Weil der Trolly die Erfindung des Jahrzehnts ist, sind nämlich nur noch ganz selten auf deutschen Bahnhöfen Gepäckwagen zu finden. Und helfen tut einem sowieso keiner. Ihr wißt schon...die glotzen ja alle lieber auf ihre Smartphones. 

Im Zug geht der Spaß dann weiter. Diese Trollies tun den Menschen nicht gut. Als man seinen Koffer noch tragen mußte, wurde oft über die Türken gelacht, weil die anscheinend immer so viel reingepackt haben. Selbst hat man tunlichst darauf geachtet, daß man nicht zuviel eingepackt hat. Schließlich mußte man das Ding ja anschließend auch selber zu Oma Käthe nach Buxtehude schleppen. Oder zumindest bis zum Bahnhof.. 

Heute wird gepackt, als wäre man am Auswandern. Dabei geht es doch nur mit dem Liebsten über das Wochenende zum Musical nach Hamburg und nicht wie damals mit der siebenköpfigen Familie für vier Wochen nach Anatolien. 
Und nun ratet mal wo diese Wandschrankgroßen, ratternden Ungetüme auf Rollen heutzutage im Zug stehen? Auf den Plätzen für die Fahrräder! Logisch! 

Ahmed und Fatima haben ihre Koffer damals in den 60ern noch gemeinsam ins Gepäcknetz bugsiert, das schafft der Durchschnittsdeutsche heute nach der anstrengenden Woche im Büro nicht mehr. Nachvollziehbar... Sind ja mittlerweile so schwer, daß sie keiner mehr ins Gepäckfach heben kann. 

Dann stehst Du als Biker in diesem engen Gang, die bescheuerte Automatiktuer geht dauernd zu, wenn Du es nicht brauchst und Du suchst den Besitzer des fahrenden Schranks. Taucht der dann endlich gnädigerweise auf, dann heißt es: 

"Wo soll ich denn den sonst hinstellen?".

Ist wie mit den kleinen Menschen in ihren zu großen Autos. Die fragen sich auch: "Warum hat man eigentlich die letzten vierzig Jahre alle Parkplätze zu klein gebaut???"

Ja, ich liebe diese ratternden Armverlängerungen abgöttisch. Vor kurzem, im Zug nach Ehrwald, wurde so ein Ding ohne Bremse direkt neben mein Rad gestellt. Ist ja wie gesagt zu schwer für das Gepäckfach. Wer schränkt sich denn schon freiwillig ein? Mein Glück war nur, daß ich in der Nähe geblieben bin. Wie nicht anders zu erwarten, geriet das Ding ins Rollen und war gerade auf dem direkten Weg mein empfindliches Schaltwerk zu ruinieren, hätte ich nicht mit einem beherzten Sprung mein Bike vor dem Einschlag des Rollkoffers gerettet. 

Geht mir aus den Augen mit Euren Trollies. Minimalismus ist Freiheit!

Wie schrieb jemand so schön? Statt an den Ursachen anzusetzen, bekämpfen wir die Auswirkungen. 

Hauptsache der Rubel rollt.






Als ich der letzten Röhre an diesem Tag endlich entkommen bin, liegen sage und schreibe fast sechszehn Kilometer Radeln in dieser gesundheitsgefährdenden und menschenfeindlichen Umgebung hinter mir. 

Zur Belohnung erwartet mich bereits ein Platz zum Campen direkt neben dem Tunnelportal. Es hat wieder zu nieseln angefangen und ich bin wirklich platt nach soviel hochkonzentrierter, nervenaufreibender Dämmerfahrt in schlechter Luft. Wie ein Ertrinkender sauge ich die kühle, nasskalte Abendluft gierig in meine Lungen.

Wie China funktioniert, wird mir in diesem Augenblick auch nochmals vor Augen geführt. Auf dem letzten Tunnelfoto sieht man rechts am Eingang einen Mann mit braunem Sakko. Da ich mich etwas später als er in das Tunnel begebe, wundere ich mich noch, welche Strecke der sich für seinen Spaziergang ausgesucht hat, als ich ihn im Tunnel überhole. Als ich meinen Platz zum Campen neben dem Tunnelausgang begutachte, kommt er auch endlich wieder ans Tageslicht. Er geht zum Abfallkorb, wirft etwas Unrat hinein, den er auf dem Hinweg gesammelt hat und macht sich wieder auf den 1,2 km langen Rückweg.




* Dirk C. Fleck



Man lernt nie aus. Selbst nachts. Spätestens wenn man aufwacht und feststellt, daß es im Zelt naß ist. Schnell merke ich, daß das Außenzelt keine Spannung mehr hat. Super, denke ich. Genau mein Ding. Nachts raus aus der Komfortzone, rein in die kalten, feuchten Klamotten und draußen im Regen nachsehen, was schief gelaufen ist.

Gesagt. Ungern getan. Der Dauerregen hat den Boden aufgeweicht und die gestrafften Abspannseile haben die Häringe aus dem Boden gezogen. Zum Glück liegen überall große Steinbrocken. Also treibe ich die Häringe wieder in den Boden, beschwere sie jeweils mit einem großen Stein, gehe zurück zu meinem Zelt und verkrieche mich wieder in meinem Daunenparadies. 

Es regnet die ganze Nacht. Die Temperatur hat sich im einstelligen Bereich eingependelt. Und ich bin erst auf 1.600 Meter Höhe. Genau das hatte ich befürchtet. Nässe und Kälte. Bin ich tatsächlich zu spät dran für Osttibet? 




We will see, said the blind to the dead.
Wir werden sehen, sprach der Blinde zum Toten.


* Spruch von meinem Bikebuddy Mike Neyens - genannt Eddy - mit ihm bin ich 2016/2017 zwei Monate lang durch Laos und Vietnam geradelt